Eine Analyse der Methodik des Gesundheitsministeriums, der zunehmenden Herausforderungen im weiteren Kriegsverlauf sowie Schätzungen unabhängiger Forscher und humanitärer Organisationen.
HINWEIS: Dies ist ein Wiederabdruck eines Artikels von dataactivists.org
Seit dem 7. Oktober 2023 veröffentlichen das Gesundheitsministerium (MoH) und das Regierungspresseamt (GMO) statistische Berichte über die Opferzahlen. Am 22. Juli 2025 lag die offizielle Zahl der Todesopfer bei 59.106.
Die Wahrhaftigkeit dieser Daten wurde durch unabhängige Analysen bestätigt. Dennoch argumentieren immer mehr Experten, dass diese Zahlen das tatsächliche Ausmaß der Todesopfer durch den von Israel geführten Krieg deutlich unterschätzen.
In diesem Artikel analysieren wir die Methodik des MoH, die sich verschärfenden Herausforderungen im weiteren Kriegsverlauf sowie Schätzungen unabhängiger Forscher und humanitärer Organisationen. Unser Ziel – über ein Jahr nach Beginn des anhaltenden Völkermords – ist es, ein realistischeres Bild der menschlichen Kosten des Krieges in Gaza zu zeichnen.
Nachfolgend das Ergebnis unserer Auswertung der Expertenschätzungen. Diese Zahlen übersteigen die offiziellen Berichte bei Weitem, basieren jedoch auf konservativen Schätzungen des wahren Ausmaßes des Völkermords in Gaza.
Laut diesen konservativen Schätzungen sind heute über 200.000 Menschen tot.
Die vom MoH und GMO verwendete Methodik zählt ausschließlich Todesfälle, die beide der folgenden Kriterien erfüllen:
Menschen, deren Leichen unter Trümmern liegen (geschätzt auf >10.000) oder die an den indirekten Folgen des Krieges (Hunger, Krankheit) sterben, sind in diesen Zahlen nicht enthalten (obwohl das MoH über genügend historische Daten verfügt, um diese Zahlen zu schätzen).
Mehrere unabhängige Analysen von UN, WHO, Forschern und der IDF haben die Genauigkeit der Daten bestätigt. Diese werden über das Projekt Tech For Palestine datasets aufbereitet und veröffentlicht.
Sowohl die kumulierten Zahlen als auch die täglichen Berichte zu israelischen Angriffen stammen vom MoH: Diese Zahlen werden weit verbreitet und zugleich oft von Medien und Politikern angezweifelt.
Das MoH nennt zwei Hauptgründe für seine Methodik:
Selbst mit diesen konservativen Zahlen ist das menschliche Leid in Gaza beispiellos:
Die Berichterstattung des MoH und GMO wird durch die Umstände eines der tödlichsten und zerstörerischsten militärischen Angriffe der Geschichte zunehmend erschwert.
Die offiziellen Zahlen werden systematisch in Frage gestellt, kritisiert und verhöhnt: durch Medien, Politiker („kein Vertrauen in die Zahlen, die die Palästinenser verwenden“ – Biden) und im öffentlichen Diskurs.
Die staatliche Berichterstattung aus Gaza wird regelmäßig als ungenau, übertrieben oder als Hamas-Propaganda dargestellt. Diese Zahlen werden genutzt, um Genozid-Vorwürfe zu relativieren und den Anstieg von Hunger und Seuchen zu leugnen. Das Abflachen der Todeskurve wird als Beweis herangezogen, dass Proteste übertrieben seien und Israel Zurückhaltung übe.
Mit zunehmender Kriegsdauer verschärfen sich die Herausforderungen, nicht nur die Zahl, sondern auch die Identität der Getöteten zu erfassen. Angesichts der Methodik des MoH ist es offensichtlich, warum die Berichterstattung leidet: „Die Gesundheitsinfrastruktur im Gazastreifen ist vollständig zerstört“, Belagerungsbedingungen führen zu ständigen Systemausfällen, medizinisches Personal meldet regelmäßig Überforderung angesichts der täglichen Flut von Toten, Verwundeten und Kranken, es gibt regelmäßig Massenopfer mit durchschnittlich 376 Toten oder Verletzten pro Tag, 66% der Infrastruktur ist zerstört, 90% der Bevölkerung vertrieben, u.v.m.
Um die Genauigkeit der Berichterstattung zu wahren und gleichzeitig die Würde der Opfer zu schützen, stützt sich das MoH zunehmend auf glaubwürdige Medienquellen und Ersthelfer und hat ein Justizkomitee mit der Verifizierung der Todesfälle beauftragt. Doch genau diese Quellen werden systematisch zerstört, eingeschüchtert oder an ihrer Arbeit gehindert. Ausländische Medien dürfen nicht nach Gaza einreisen, ihre Büros werden geschlossen. Mediziner, Journalist:innen, Polizisten, humanitäre Helfer:innen werden gezielt angegriffen (in einer Weise, die „absichtlich oder Ausdruck von grober Inkompetenz“ ist), wie von zahlreichen Organisationen berichtet wird.
Einige Forscher finden die Widerstandsfähigkeit des MoH bemerkenswert, dennoch werden dessen Bemühungen, sich den Umständen anzupassen, zugleich als Zeichen von Inkonsistenz, politischer Absicht oder Übertreibung interpretiert.
Das MoH sieht sich mit dem Dilemma konfrontiert, dass jede Änderung seiner Methodik – ob zur Erhöhung oder Verringerung der Genauigkeit – zur weiteren Infragestellung seiner Glaubwürdigkeit führen würde. Dennoch werden die Grenzen dieser Methodik mit fortschreitender Kriegsdauer immer deutlicher. Obwohl das Ausmaß des palästinensischen Leidens bereits vor Kriegsbeginn unbestreitbar war, war die Berichterstattungsstrategie des MoH nicht auf einen Völkermord ausgelegt. Sie war nicht für ein ganzes Jahr ununterbrochener bewaffneter Aggression, für ein Jahr Belagerung, für ein Jahr gezielter Angriffe auf medizinisches Personal gedacht. Nicht für ein Jahr, in dem die Opferzahlen von 5 auf 10 auf 20 auf 40 Tausend stiegen, in dem westliche Waffenlieferungen an Israel nicht abrissen, in dem die Medien die Zustimmung zum Genozid herbeischrieben.
Unter solchen Bedingungen wird die Methodik zur Falle: Die Toten häufen sich, die Fähigkeit zur Berichterstattung schwindet, und der daraus resultierende Rückgang in der offiziellen Statistik wird als positives Zeichen dargestellt – was die Dringlichkeit internationaler Hilfe verringert. Wenn man diese Logik zu Ende denkt (Zusammenbruch des gesamten Staatsapparats und der Gesundheitsversorgung, vollständige Ausschaltung der Presse), wird die offizielle Opferzahl tatsächlich nicht weiter steigen – und der Genozid wäre statistisch beendet.
Unkritisch allein die offiziellen Zahlen zu melden bedeutet, die Debatte – insbesondere in Mainstream-Medien – auf eine Weise zu rahmen, die die offiziellen Zahlen bestenfalls als Obergrenze präsentiert.
Die Arbeit unabhängiger Forscher:innen ist daher essenziell, um die tatsächlichen menschlichen Kosten des Krieges besser zu erfassen. Die vollständige Opferzahl ist noch größer: Sie umfasst die durch Israel im Rahmen des Völkermords Getöteten, aber auch die israelischen Opfer des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober 2024 sowie die Toten des aktuellen Krieges Israels im Libanon.
Da die Methodik des MoH keine vollständige Erfassung aller Todesursachen anstrebt oder leisten kann, dienen die unabhängigen Schätzungen als notwendige Ergänzung. Sie helfen, das wahre Ausmaß des Leids zu dokumentieren und auch jene Opfer zu würdigen, die in den offiziellen Zahlen nicht vorkommen. Dies ist entscheidend für eine wissenschaftlich fundierte Debatte und für die Wahrung der Integrität der Dokumentation.
Wir haben vier zentrale Quellen ausgewählt, basierend auf den Qualifikationen der Autor:innen, ihrer Methodik und der Rezeption in humanitärer oder wissenschaftlicher Literatur. Informelle Quellen – etwa Aussagen von Mediziner:innen und Journalist:innen vor Ort, die durchweg von weitaus höheren Opferzahlen sprechen (Schätzungen reichen von dem 5- bis 10-fachen der offiziellen Zahlen) – wurden hier nicht aufgenommen, unterstützen jedoch die Größenordnung der unten aufgeführten Daten.
Ein Brief von Dr. Rasha Khatib, Dr. Martin McKee und Dr. Salim Yusuf, veröffentlicht im Juni 2024, schätzt die Zahl der Toten auf bis zu 186.000. Grundlage ist ein konservativer Multiplikator von 4 indirekten Toten auf jeden direkt getöteten Menschen. Historische Daten zeigen, dass indirekte Opferzahlen in der Regel das 3- bis 15-fache der direkten Todesfälle betragen.
Eindeutig als Unterschätzung beschrieben: „eine konservative Schätzung von vier indirekten Toten pro einem direkten Toten“
Ein im Februar 2024 veröffentlichter Bericht humanitärer Expert:innen modellierte verschiedene Szenarien für diesen Zeitraum. Auch im Basisszenario ohne Eskalation oder Epidemien überschritten die geschätzten Opferzahlen deutlich die offiziellen.
Das Waffenstillstandsszenario ist mittlerweile obsolet. Für das Eskalations- und das Epidemie-Szenario gibt es plausible Argumente, aber wir haben nur die konservativste Schätzung aufgenommen.
Eindeutig als Unterschätzung beschrieben: „Expert:innenurteile und Vergleichsdaten aus anderen Konflikten könnten zu konservativen Schätzungen geführt haben“
Der im Oktober 2024 veröffentlichte US-Brief nennt folgende Zahlen: 10.000 Menschen unter Trümmern, konservative 62.413 Tote durch Hunger und Krankheiten (basierend auf IPC-Schätzungen) und 5.000 Tote unter chronisch Kranken. Zusammen mit den offiziellen Kriegstoten ergibt sich eine Gesamtschätzung von mindestens 118.908.
Nicht enthalten sind Opfer durch Infektionskrankheiten, Geburtskomplikationen etc. Der Bericht Crisis in Gaza geht davon aus, dass diese 8–20% der Gesamtzahl ausmachen.
Eindeutig als Unterschätzung beschrieben: „Dies sind die konservativsten Schätzungen, die mit den verfügbaren Daten bis zum 30. September 2024 möglich sind. Die tatsächliche Zahl liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich höher.“
Prof. Devi Sridhar, Lehrstuhlinhaberin für globale Gesundheit in Edinburgh, schätzte im September 2024, dass die Todeszahlen bis Ende des Jahres 335.000 erreichen könnten. Grundlage sind Extrapolationen aus früheren Studien und aktuelle Konfliktdynamiken.
Ihre vorherige Schätzung (500.000) wurde basierend auf den Lancet-Daten nach unten korrigiert. Auch diese neue Schätzung ist als „sehr konservativ“ gekennzeichnet.
Diese Zahl wird von UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese als untere Grenze eines Schätzwerts von 15–20% der Bevölkerung (386.000–440.000) zitiert. Um konservativ zu bleiben, haben wir Albaneses Schätzung nicht als eigene Quelle aufgenommen.
Wir haben alle genannten Analysen ausgewertet und einen Trendverlauf berechnet. Der zugrundeliegende Code, die Daten und Diagramme sind auf GitHub verfügbar. Das Ergebnis:
Verglichen mit der Grafik aus der Einleitung: Diese konservativen Schätzungen sind ein Vielfaches der offiziellen Zahlen. Jede einzelne Quelle beschreibt ihre Schätzung ausdrücklich als konservativ. Gründe hierfür sind:
Wenn eine Spannbreite angegeben wurde, haben wir jeweils den unteren Wert gewählt.
Noch einmal: Die rote Linie im Diagramm – über 200.000 Tote – basiert auf den konservativsten verfügbaren Schätzungen.
Im Gegensatz zu den offiziellen Zahlen zeigt diese Trendlinie keine Verlangsamung, sondern bleibt linear bis ins Jahr 2025 – dem Zeitpunkt der letzten verfügbaren Schätzung.
Das wäre das optimistischste Szenario – ohne weitere Eskalation. Wahrscheinlicher ist jedoch ein Anstieg:
Die kriegsbedingten Todesfälle werden noch Jahre andauern. Der Wendepunkt nach unten – wenn überhaupt – liegt in weiter Ferne.
Die Diskrepanz zwischen offiziellen und unabhängigen Schätzungen zeigt, wie schwierig die korrekte Erfassung der Opferzahlen in Gaza ist. Während die offiziellen Zahlen eine notwendige Untergrenze darstellen, sind sie höchstwahrscheinlich eine starke Unterschätzung. Konservative Schätzungen unabhängiger Expert:innen – unter Einbeziehung indirekter Todesursachen – gehen bereits heute von über 200.000 Toten aus (Stand: Oktober 2024).
Die genaue Dokumentation von Opfern in Kriegen ist essenziell:
Die offiziellen Zahlen stellen das absolut niedrigste mögliche Minimum der Opfer des laufenden Krieges Israels dar. Diese Tatsache steht jenseits politischer Überzeugungen oder Gruppenzugehörigkeit.
Wir werden weiter an diesem Thema arbeiten – mit Partner:innen aus Wissenschaft, Journalismus und Zivilgesellschaft.
Solange der Konflikt andauert, ist es entscheidend, alle Anstrengungen für transparente Opfererfassung zu unterstützen – einschließlich des Schutzes von Gesundheitspersonal, Journalist:innen und humanitären Helfer:innen.
Nur durch ein umfassendes Verständnis der Auswirkungen kann die internationale Gemeinschaft wirksam reagieren – und einer weiteren Eskalation entgegenwirken.
Über die offiziellen Zahlen hinauszugehen ist eine Frage der Integrität für Forschende und Medienschaffende. Es ist eine Frage der Fairness und Menschlichkeit für Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen.
Es geht darum, das wahre menschliche Leid des Krieges gegen Gaza sichtbar zu machen.