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Brief an den Präsidenten der Universität Göttingen

Zugestellt per Email und persönlich am 12.06.2025

Zugestellt per Email und persönlich am 12.06.2025

Göttingen, den 12. Juni 2025

Forderung zur Einstellung der Kooperation mit israelischen Partneruniversitäten und Forschungseinrichtungen: Keine akademische Komplizenschaft mit Kriegsverbrechen

Sehr geehrter Professor Dr. Schölmerich,

wir schreiben Ihnen, um die Mitschuldigkeit unserer akademischen Institution – wie vieler anderer in Deutschland – an der Beihilfe an der durch die israelischen Regierung ausgeübten Verbrechen, anzuprangern. Es sind der Staat und das Militär Israels, die letztlich das rassistische Apartheid-Regime aufrechterhalten, Kinder töten, humanitäre Hilfe blockieren und eine ganze Gesellschaft vertreiben und auslöschen. Doch diese abscheulichen Verstöße gegen das (humanitäre) Völkerrecht können nur durch internationale Zustimmung, Unterstützung und Finanzierung durch Israels Verbündete weiterbestehen.

Seit 20 Monaten führt Israel einen genozidalen Angriff auf Gaza durch. Dies folgt auf eine 16-jährige Blockade, in der der Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten, Treibstoff und anderen grundlegenden Gütern sowie die freie Bewegung von Menschen durch Israel stark eingeschränkt war. Seit Oktober 2023 sieht die Welt zu, wie eine ganze Gesellschaft unaufhörlich bombardiert und vollständig ausgelöscht wird – mit Live-Aufnahmen der betroffenen Menschen selbst, die uns eindringlich bitten, ihr Leid anzuerkennen.

Im März 2025 veröffentlichte das Gesundheitsministerium in Gaza ein 1.516 Seiten langes Dokument mit den Namen von 50.020 identifizierten Palästinenser*innen, die durch traumatische Verletzungen infolge der israelischen Angriffe getötet wurden. Dies entspricht etwa 2,2 % der Gesamtbevölkerung des Gazastreifens. Eine im Juli 2024 im medizinischen Fachjournal The Lancet veröffentlichte Studie schätzt, dass auf jede der bis dahin 37.396 durch israelische Angriffe getöteten Personen vier weitere Todesfälle durch Krankheiten und Unterernährung kommen. Daraus ergibt sich eine Schätzung von ca. 186.000 Toten – etwa 7,8 % der Bevölkerung.

Seit März blockiert Israel erneut die Einfuhr humanitärer Hilfsgüter nach Gaza. In den letzten Wochen wurden Massaker und Entführungen von ausgehungerten Palästinenser*innen dokumentiert, die in Schlangen auf Lebensmittel aus Hilfskonvois warteten, die von Israel kontrolliert werden. Gleichzeitig stehen Hunderte Lastwagen mit Hilfsgütern der UN und internationaler Organisationen an der Grenze und erhalten keinen Zugang. Dieser Krieg – von vielen, einschließlich UNICEF, als „Krieg gegen Kinder“ bezeichnet – hat Gräueltaten hervorgebracht, die selbst Expert*innen für Kriegs- und Konfliktgebiete erschüttert haben, darunter:

  • das neue Akronym WCNSF („Wounded Child No Surviving Family“ – verletztes Kind ohne überlebende Angehörige), geprägt von Ärzte ohne Grenzen, die bereits im März 2024 von 17.000 betroffenen Kindern sprachen
  • Kinder, die mit gezielten Schussverletzungen am Brust- und/oder Kopf ins Krankenhaus eingeliefert wurden
  • bunkerbrechende Bomben, die auf Trümmerhaufen und Flüchtlingslager abgeworfen werden
  • Inhaftierung und Folterung von Ärzt*innen und anderem zivilen Fachpersonal
  • gezielte Tötung von Journalist*innen
  • Bombardierung von Krankenhäusern, UN-Schulen und humanitären Einrichtungen, die normalisiert und gerechtfertigt wird
  • vollständige Zerstörung der Gesundheitsversorgung, des Bildungssystems und religiöser Stätten
  • Israels „systematischer Einsatz sexueller, reproduktiver und anderer geschlechtsspezifischer Gewalt seit dem 7. Oktober 2023“
  • größte Kohorte von Kindern mit Mehrfachamputationen
  • vollständige Auslöschung von über 2.000 Familienlinien

Wir könnten noch seitenlang fortfahren mit der Aufzählung der Schrecken dieses großen Verbrechens unserer Zeit. Prof. Dr. Schölmerich, wir erleben eine Gräueltat ohnegleichen. Der andauernde Genozid hat die moralischen und ethischen Grundfesten unserer Gesellschaft zerstört. Palästinenser*innen in Gaza werden zweimal getötet – einmal physisch und ein weiteres Mal im öffentlichen Diskurs, wenn sie entmenschlicht, ihre Ermordung gerechtfertigt und die Verbrechen an ihnen geleugnet werden. Die Überlebenden werden sich für immer an das moralische, ethische und rechtliche Versagen der internationalen Gemeinschaft erinnern, sei es durch Schweigen oder aktive Mitwirkung.

An diesem Punkt reagieren viele Menschen mit Resignation und sagen uns, dass sie das Leid zwar sehen, aber dass weder sie noch irgendjemand anderes etwas dagegen tun könnten. Sie fühlen sich machtlos gegenüber den geopolitischen Mächten. Doch wir schreiben Ihnen heute, um zu zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Sie und die Georg-August-Universität Göttingen können und müssen handeln.

Als Institution des Lernens und der Wissensproduktion ist die Universität ein Ort gesellschaftlicher Macht und Autorität. Ihr öffentliches Ansehen und die Beziehungen, die sie pflegt, senden eine Botschaft. Derzeit nutzt die Universität diese Macht, um durch ihr Schweigen den Genozid an Palästinenser*innen zu legitimieren und israelischen Institutionen, die Genozid und Apartheid aufrechterhalten, Glaubwürdigkeit zu verleihen. Zudem unterliegen öffentliche Universitäten dem öffentlichen Recht, ihr Handeln ist also dem Staat zurechenbar – und umgekehrt. Daher ist auch die Universität Göttingen – wie alle staatlichen und privaten Akteure – verpflichtet, internationales Recht und Abkommen zu achten, insbesondere:

  • **Die Völkermordkonvention (1948):**Staaten sind verpflichtet, Genozid zu verhindern oder zu stoppen. Diese Verpflichtung wurde im Januar 2024 im Verfahren Südafrika vs. Israel vor dem Internationalen Gerichtshof bestätigt. In den Folgeentscheidungen wurde klargestellt, dass auch staatliche Einrichtungen jegliche Handlungen, die einen Genozid ermöglichen, unterlassen müssen. Dazu zählt auch die Finanzierung oder Zusammenarbeit mit mitschuldigen Institutionen.
  • **Die UN-Apartheidkonvention (1973) & das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs:**Die israelische Politik erfüllt laut Amnesty International, Human Rights Watch, B’Tselem u.a. mehrfach die rechtliche Definition von Apartheid. Ein Gutachten des IGH vom Juli 2024 bekräftigte, dass alle Staaten verpflichtet sind, die Besatzung palästinensischen Gebiets nicht anzuerkennen und alle Handlungen zu beenden, die diesen Zustand aufrechterhalten. Akademische Zusammenarbeit ist solch eine Handlung.
  • **Respektieren Sie den BDS-Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft:**Über 1.200 palästinensische Organisationen fordern Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen, bis Israel internationales Recht einhält.

Wir wissen, dass viele Jurist*innen in Deutschland und weltweit diese Verpflichtungen ignorieren und den Status quo verteidigen. Aber wir müssen es besser machen.

Wir sehen dabei zu, wie Israel versucht, die verbleibende palästinensische Bevölkerung in Gaza zu töten oder dauerhaft zu vertreiben und das zersplitterte palästinensische Gebiet im Westjordanland weiter zu besiedeln.

Der Genozid in Gaza, die Besatzung Palästinas und das Apartheidsystem wurden von fast der gesamten UN-Generalversammlung anerkannt – mit Ausnahme der USA, Großbritanniens, einiger EU-Staaten und ihrer Partner, also jener Staaten, die Israel mit Waffen und internationaler Legitimität versorgen und bei Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitschuldig gemacht werden können.

In diesem Schreiben verwenden wir die Begriffe Genozid, Besatzung und Apartheid nicht politisch oder überspitzt, sondern im völkerrechtlichen Sinne, gestützt auf Gutachten von UN-Berichterstattern, Kommissionen und führenden humanitären Organisationen.

Israelische Universitäten spielen eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung des Unterdrückungssystems gegenüber Palästinenser*innen durch:

  • militärische Forschung und Entwicklung im Dienste der Apartheid
  • Unterstützung von Landraub und Siedlungsausbau
  • diskriminierende Politik gegenüber palästinensischen Studierenden und Wissenschaftler*innen

Wir haben bis jetzt sechs Kooperationen identifiziert, die die Universität Göttingen direkt mit dem andauernden Genozid in Palästina verbinden und ihre Mitverantwortung verdeutlichen:

  • das CODECO-Programm in Partnerschaft mit Red Hat Israel, einer IBM-Tochter, die technische Unterstützung für die IDF bereitstellt
  • der Studierendenaustausch mit der Hebräischen Universität Jerusalem, deren Campus auf illegal besetztem Gebiet in Ostjerusalem liegt und militärische Programme wie Havatzalot beherbergt
  • Kooperation mit der Universität Haifa, die gegründet wurde, um die Galiläa zu besiedeln, und militärische Colleges organisiert
  • Kooperation mit dem Weizmann-Institut, das gemeinsam mit der Technion-Universität Waffentechnologie für die IDF entwickelt
  • das MEWAC-GRaCCE-Programm in Partnerschaft mit der israelischen Wasserbehörde und dem staatlichen Wasserversorger Mekorot
  • Teilnahme mitschuldiger Unternehmen wie Kappa optronics, Coherent und Excelitas/Qioptiq an der Praxisbörse 2025

In einem früheren Gespräch sagten Sie, deutsche und israelische Universitäten seien zu Neutralität und akademischer Exzellenz verpflichtet. Stehen Sie noch zu dieser Aussage und halten Sie die genannten Kooperationen für neutral? Wie rechtfertigen Sie diese Verbindungen zur israelischen Besatzung? Wann wird Ihre internationale Wissenschaftsgemeinschaft palästinensischen Akademiker*innen eine gleichberechtigte Chance geben?

Wir fordern die Universität Göttingen und Sie als Präsident dieser angesehenen Institution auf, unverzüglich:

  • jede Partnerschaft, Kooperation, jedes Forschungsprogramm und jede Investition offen zu legen, die die Universität mit der israelischen Besatzung verbindet
  • alle Partnerschaften mit israelischen akademischen Einrichtungen, die an Apartheid und Genozid beteiligt sind, zu beenden
  • sich von Unternehmen zu trennen, die vom israelischen Besatzungsregime profitieren (z.B. HP, Siemens)
  • eine öffentliche Stellungnahme zur Verurteilung der israelischen Verstöße gegen das Völkerrecht abzugeben
  • ein Stipendienprogramm speziell für palästinensische Studierende einzurichten
  • gemeinsam mit Studierenden und Mitarbeitenden Wege zu finden, die Zivilklausel so umzusetzen und weiterzuentwickeln, dass Verstöße wie die Komplizenschaft mit Genozid und Apartheid frühzeitig verhindert werden

Wir fordern, dass diese Verbindungen erst dann wieder aufgenommen werden, wenn:

  • Israel die Besatzung und Apartheidpolitik beendet
  • das Rückkehrrecht palästinensischer Flüchtlinge (UN-Resolution 194) umgesetzt wird
  • palästinensische Wissenschaftler*innen und Studierende gleichberechtigt akademische Freiheit genießen

Wir fordern dies als Studierende und zukünftige Wissenschaftler*innen im Sinne unserer akademischen Ausbildung. Wir treten in die Fußstapfen unserer wissenschaftlichen Vorgänger*innen, die sich für „eine humane, tolerante und friedliche Welt“ einsetzten – mit „wissenschaftlichem Pragmatismus, Realitätssinn und einem ausgeprägten Bewusstsein für die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft“.

Die Geschichte verlangt nun von Ihnen eine wegweisende Entscheidung. Wir bestehen darauf: Sie müssen Ihrer moralischen und rechtlichen Verantwortung nachkommen – andernfalls riskieren Sie, Ihr Vermächtnis und das der von Ihnen vertretenen Institution für immer zu beflecken. Zu viel Zeit ist bereits vergangen, und jeder weitere Tag verstärkt die Mitschuld unserer Institution. Doch mit einem mutigen Bekenntnis zur Gerechtigkeit können Sie eine globale Bewegung des Gewissens auslösen, die der Unterdrückung wie einst im Kampf gegen die Apartheid in Südafrika die Stirn bietet.

Die Entscheidung, die Sie heute treffen, wird über Generationen hinweg nachhallen.Werden Sie mitschuldig bleiben – oder handeln Sie im Sinne der Gerechtigkeit, wie es Ihrer Universität entspricht?

Wir erwarten eine schriftliche Antwort innerhalb von zwei Wochen (also bis zum 26. Juni), in der Sie Ihre Haltung und Ihre weiteren Maßnahmen darlegen.

Mit freundlichen Grüßen

Students for Palestine Göttingen


Für weitere Informationen siehe Gaza Strip: The Humanitarian Impact of 15 Years of the Blockade, Juni 2022, UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs. Bericht lesen

Weltgesundheitsorganisation, Health Cluster (2022). 15 Jahre Blockade und Gesundheit in Gaza. Datenblatt lesen

Die Liste ist auch als Datensatz verfügbar, gepflegt vom Tech for Palestine Collective. Datensatz ansehen

Einen Überblick über die humanitäre Lage gibt der UN-OCHA-Dashboard dieser Woche Reported Impact Snapshot | Gaza Strip (25. März 2025). Snapshot ansehen

Khatib, R., McKee, M. & Yusuf, S. (2024). Counting the dead in Gaza: difficult but essential. Artikel lesen

Eine aktuelle Studie über denselben Zeitraum zeigt zudem, dass die Zahl des Ministeriums über direkte Todesfälle durch traumatische Verletzungen selbst um 41 % zu niedrig angesetzt ist, was die tatsächliche Zahl auf etwa 64.000 erhöht.
Jamaluddine, Z., Abukmail, H., Aly, S., Campbell, O. M. & Checchi, F. (2025). Traumatic injury mortality in the Gaza Strip from Oct 7, 2023, to June 30, 2024: a capture–recapture analysis. Artikel lesen

Siehe zum Beispiel diesen Artikel von Amnesty International: Israel/OPT: Zwei Monate grausamer und unmenschlicher Belagerung sind ein weiterer Beleg für Israels Völkermordabsicht in Gaza, 2. Mai 2025. Artikel lesen

Hier sind einige der Stellungnahmen führender UN-Beamter:
UN-Nothilfekoordinator
UN-Hochkommissar für Menschenrechte
UNRWA-Generalkommissar
OCHA-Update

Weitere Einzelheiten finden Sie im Bericht des International Rescue Committee. Bericht lesen

Bereits im April 2024 im Guardian berichtet und später durch internationale Ärztedelegationen bestätigt. Artikel lesen

Zuletzt berichtet und demnächst im Rahmen der 59. Sitzung des Menschenrechtsrats präsentiert:
Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission über das Besetzte Palästinensische Gebiet, einschließlich Ostjerusalem, und Israel (A/HRC/59/26). Bericht lesen

Zitat aus dem Titel des entsprechenden UN-Berichts zu dieser Frage. Bericht lesen

Anwendung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordverbrechens im Gazastreifen (Südafrika gegen Israel), IGH-Bericht über das Verfahren zu vorläufigen Maßnahmen. Fall lesen

Rechtliche Konsequenzen aus den Politiken und Praktiken Israels im besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich Ostjerusalem, Gutachten des IGH vom 19. Juli 2024. Gutachten lesen

Siehe zum Beispiel das jüngste Veto der USA gegen die Resolution des Sicherheitsrats zum Waffenstillstand.

Zitat aus dem Leitbild der Universität. Leitbild ansehen

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